Stricken konnte überleben, weil Frauen ihre Geschichten ins Gestrickte hineinschreiben. Liebeserklärung an eine uralte Kulturtechnik.

Das hier ist ein Text übers Stricken. Halt, nicht zur nächsten Überschrift wandern, bloß weil Stricken Langeweile triggert! „Strick, Baby, strick!“ „Rock, Baby, rock“ kommt später.

Es geht hier nicht darum zu erklären, wie rechts stricken, wie links stricken geht, sondern darum, die richtigen Geschichten übers Stricken zu erzählen. Denn der Wollfaden ist wie Schrift, und das, was mit ihm gestrickt wird, ist manchmal wie ein Geschichts-, öfter wie ein Tagebuch.

Eine Frage an alle Tagebuchschreibenden: Lesen Sie je, was Sie einmal geschrieben haben, und lesen andere es? Eine Frage an eine Strickende: Welche Geschichte erzählt die beige Jacke mit dem mahagonifarbenen Rand, den die Mutter einer Freundin nach dem Krieg gestrickt hat und die wie ein Kleinod weitergereicht wurde, obwohl die Wolle kratzt? Wer fragt, erfährt, dass da Lebensgeschichte drinsteckt, erfährt, dass die Mutter die Jacke aus der Wolle eines aufgeribbelten Männerpullovers mit Brandlöchern strickte. Woher sind die Brandlöcher?, fragst du. Fragst du noch.

Stricken wird heute als Tätigkeit von Frauen wahrgenommen. Das mag das Aufmerksamkeitsdefizit gegenüber dieser tausend Jahre alten Kulturtechnik begründen. Was Frauen machen, war zu lange irrelevant.

„Zwei links, zwei rechts“

Und dass Frauen stricken, stimmt ja heute auch. So richtig indes blieb diese Handwerkstechnik erst an ihnen hängen, nachdem die Strickmaschine 1863 erfunden wurde. „Handstricken wurde erst weiblich, als es sich finanziell kaum noch lohnte“, schreibt Ebba D. Drolshagen in ihrem Buch „Zwei links, zwei rechts“. Da haben wir es.

Dass zuvor nur Männer strickend am Werk waren, kann allerdings auch nicht stimmen, denn in der Renaissance gibt es Gemälde von strickenden Madonnen. Die hierzulande bekannteste stammt von Meister Bertram vom Anfang des 15. Jahrhunderts und ist auf dem rechten Flügel des Buxtehuder Altars.

Da die Geschichtsschreibung aber auf Männer fokussiert, gilt Handstricken vor der industriellen Revolution eben als Männerdomäne. Und die Handstricker sind nicht unschuldig daran, dass ein bereits Ende des 16. Jahrhunderts entwickelter manueller Strickapparat fürs Strümpfestricken in der Versenkung verschwand, weil die Handstrickergilden dagegen Sturm liefen. Strumpfstricken war eine Profession. Das wollten sie sich von einer Maschine nicht nehmen lassen.

Strümpfe waren hohes Gut; besser und eleganter, als sich Lappen um die Füße zu wickeln. Wer die Klassengesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit studieren will, sollte auf die Fußbekleidung achten. „Mary Stuart Queen of Scots tat ihren letzten Gang in feinen handgestrickten Strümpfen“, schreibt Liz Sutter in ihrem Artikel über die Geschichte des Strickens.

Sechsmal schneller

Dieser Mann übrigens, der 1589 den Handstrickapparat für Strümpfe entwickelte, gegen den die Strumpfstrickergilden opponierten, der Engländer William Lee, war ein Geistlicher. Weil sein Beruf nichts einbrachte, musste seine Frau Strümpfe strickend hinzuverdienen. Hinzuverdienen, heißt es. Nicht wissend, ob sie die Hauptverdienerin war. Immerhin, ihr Mann entwickelte ebendiese manuelle Maschine, mit der das Strümpfestricken sechsmal schneller ging als per Hand. Das Patent dafür wurde ihm verweigert und nach seinem Tod verschwand die Maschine in der Versenkung.

In der Geschichtsschreibung der Neuzeit betreten Strickerinnen – nach den Madonnen – wieder öffentlich die Bühne in der Französischen Revolution als sogenannte Tricoteusen. Es waren Jakobinerinnen, die strickend auf der Tribüne im Nationalkonvent saßen oder strickend den Hinrichtungen folgten. Bis heute gilt das Wort „tricoteuse“ im Französischen als Synonym für eine politische Radikale.

Warum die Frauen sich strickend zeigten, beschäftigt die Geschichts- und Sozialwissenschaften, traten sie so doch mit einer ihrer Tätigkeiten nach außen. Als Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe, wird vermutet.

Was in Frankreich die Tricoteuse ist, sind in England, und auch bei uns, die Blaustrümpfe – ein Schimpfwort für eine Frau, die nach Emanzipation strebt. Schon wieder Strumpf also.

Panzer einstricken

Wer die Geschichte des Strickens verfolgt, stößt immer wieder auf politisch relevante Zusammenhänge. Etwa strickten Frauen in ihre Arbeiten auch Geheimdienstinformationen hinein. Rechte und linke Maschen, das sind die Nullen und Einsen des binären Codes, das Lang und Kurz des Morsealphabets. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg haben strickende Frauen in ihrem Gestrick Feindbewegungen weitergegeben, im Ersten Weltkrieg auch.

Und auch in der Gegenwart zeigen Frauen durch Stricken ihre Sicht auf Politik und Krieg, etwa wenn sie Panzer komplett einstricken wie 2013 vor dem Militärhistorischen Museum in Dresden. Oder bei den Pussyhats, diesen pinkfarbenen Mützen mit zwei Ohren, die Frauen massenhaft strickten und trugen, um den Sexismus von Donald Trump zu entlarven.

Ich wage die These, dass sich diese alte Kulturtechnik des Strickens, deren Vorläufer 1.500 Jahre alt sein sollen und deren erste verlässliche Quellen aus dem 11. Jahrhundert stammen, allen Widrigkeiten zum Trotz bis heute erhalten hat, weil Frauen ihr Leben in die gestrickten Teile hineinschrieben.

In den letzten 150 Jahren sind es fast nur noch Frauen, die strickend irgendwo anzutreffen sind. Früher bei Kerzenlicht in halb zerbombten Häusern wie die Mutter, die die beigefarbene Jacke strickte, heute im ICE, auf dem Spielplatz, in Wartezimmern. Oder vor dem Fernseher. Denn erfahrene Strickerinnen können nicht nur stricken und warten, sie können auch stricken und schauen. Und während sie stricken, stricken sie die Zeit in ihre Arbeit hinein. Und manchmal, bei einer romantischen Komödie, einem Liebesfilm mit Happy End auch die Hoffnung, dass alles gut wird.

Mehr als eine Tätigkeit

Denn Stricken ist mehr als eine Tätigkeit. Stricken hat mitunter eine entlastende Funktion, ähnlich einem Alibi, nur in zivilem Zusammenhang. Und es gab Situationen, in denen Frauen das brauchten. In Wirtshäuser konnten sie ja auch nicht, also trafen sie sich mit anderen Frauen handarbeitend. Die Handarbeit war die Legitimation. Was bei den Treffen besprochen wurde? Alles. Glück und Unglück.

Auch für mich war Stricken Alibi, als ich es vor mehr als 50 Jahren lernte. Denn in unserem Haus war Müßiggang verpönt. Man musste tätig sein. Lesen, Malen, Löcher in die Luft starren, Spazierengehen waren keine Tätigkeiten, Stricken war okay. Seither kann ich es. Und stricke Geschichten in die Pullover.

In all den Jahren habe ich erlebt, dass Stricken mal in war, mal out und dann wieder in. Die Pullover in meinem Schrank erzählen davon. Für einen brauchte ich 20 Jahre; ich fing an, als ich in London lebte, dann ging mir die Wolle aus, ich verlor die komplizierte Strickschrift und machte ihn fertig, als er mir in Berlin wieder in die Hände fiel, weil ich gleichfarbige, allerdings dickere Wolle aufgetrieben hatte. Ich erfand ein Fantasiemuster. Jetzt sind die Ärmel anders als der Rest.

Einen anderen, der 40 Jahre alt ist und den ich nicht wegwerfe, obwohl er kratzt, habe ich bei den endlosen Versammlungen gestrickt, als wir die Schokoladenfabrik in Berlin-Kreuzberg besetzten und daraus ein Frauenzentrum machen wollten, was auch geklappt hat.

Özdemirs Plädoyer

Ein neueres Exemplar ist untrennbar mit der Pandemie verbunden. Und mit Science Fiction Binge Watching auf Netflix. Ich hatte nicht gemerkt, dass unter der Wolle ein Knäuel aus einem anderen Farbbad war. Unterschiedliche Farbbäder sorgen dafür, dass Farben leicht nuancieren. Jetzt hat der Pullover einen leicht changierenden Streifen über Brust, Rücken und Schultern. Es hätte was Star-Trek-mäßiges, meint meine Freundin, die den Pullover liebt.

Wolle aus unterschiedlichen Farbbädern hatte ich, weil gute Wolle teuer ist. Der neue Landwirtschaftsminister Özdemir hätte sein Plädoyer, dass Lebensmittel das kosten müssten, was sie wert sind, auch auf Kleidung erweitern können. Bei Strickwolle aus Naturfasern sieht man, wie teuer der Preis dann wäre. Den Star-Trek-Streifen hat mein Pullover, weil ich manchmal aus Kostengründen auf Ebay hässliche Pullover aus guter Wolle ersteigere, wo ich erkenne, dass ich die Pullover aufribbeln kann. Beim Ersteigern sah ich nicht, dass da Farbnuancen waren.

Einmal, das fiel in die Zeit Anfang der 80er Jahre, als Stricken gerade gestrig wurde, jobbte ich in einem schlecht gehenden Wolleladen unweit der Berliner Schaubühne. Ich war meist allein dort. Weil ich damals meine Magisterarbeit über „Unsichtbares Theater“ schrieb, machte ich kleine Inszenierungen. Etwa saugte ich Staub, während der Öffnungszeiten. „Ist jemand hier?“, fragte eine Frau, die den Laden betrat – und ich dachte: „Bingo.“ Eine Putzfrau ist niemand.

Ein anderes Mal setzte ich mich strickend ins Schaufenster und studierte die Reaktionen der Männer und Frauen, die vorbeigingen. Die meisten deuteten die Zeichen falsch. Die Männer checkten mich, es störte sie nicht, wenn ich sie dabei beobachtete. Die Frauen blickten zu Boden, wenn sie mich bemerkten, und hasteten weiter. Nur Jutta Lampe, die Schauspielerin an der Schaubühne war, zwinkerte mir beim Vorbeigehen zu.

Quelle: https://taz.de/Das-Politische-am-Stricken/!5825536/